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Ethik

Ethische Herausforderungen zwischen Autonomie und Angewiesenheit

Ethische Herausforderungen

Nächstenliebe, Freiheit und Fürsorglichkeit

Autor: Ulrich H. J. Körtner

Aus: ETHIK KONKRET - bethel»wissen No. 01

Die Diakonie hat in den zurückliegenden Jahrzehnten einige Umbrüche erfahren und erlebt auch gegenwärtig eine Umbruchphase. Ebenso haben sich die Rahmenbedingungen diakonischen Handelns zum Teil dramatisch verändert.

Stichwortartig mag der Hinweis auf den Wandel von der Barmherzigkeit zum Sozialmarkt genügen. Zu den Veränderungen, denen die Diakonie unterworfen ist, gehört auch die Abkehr von paternalistischen Modellen diakonischen Handelns, welche Nächstenliebe und Fürsorglichkeit in Bevormundung und Entmündigung umschlagen lassen. So hat die Autonomie oder das Recht auf Selbstbestimmung eine Aufwertung erfahren, das Selbstbestimmungsrecht von in der Diakonie betreuten und begleiteten Menschen ebenso wie auch dasjenige der Mitarbeitenden. Im Alltag kann die Inanspruchnahme der Autonomie jedoch zu Spannungen oder auch ernsthaften Konflikten führen.

Autonomie ist nicht ohne Freiheit zu denken. In der sozialen Arbeit und in der Diakonie ist neben Nächstenliebe und Fürsorglichkeit zwar viel von Gerechtigkeit die Rede, von sozialer Gerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Befähigungsgerechtigkeit und neuerdings auch von Inklusion. Nicht immer wird aber mit gleichem Nachdruck von der Freiheit gesprochen. Dabei ist doch Freiheit ein zentraler Begriff der biblischen Botschaft. Er steht im Mittelpunkt des Evangeliums von Jesus Christus, wie es Paulus bezeugt. Er schreibt in Galater 5,1: „Zur Freiheit hat euch Christus befreit!“ und in 2. Korinther 3,17: „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit.“ Die Reformation hat die biblische Botschaft der Freiheit neu zur Geltung gebracht, und die evangelische Kirche, als deren Wesens- und Lebensäußerung sich doch die Diakonie versteht, begreift sich als Kirche der Freiheit. So stellt sich doch die Frage, inwiefern sich die Diakonie und diakonische Einrichtungen nicht nur als Anwältinnen der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe, sondern auch als Institutionen der Freiheit verstehen wollen.

Thematisch wird das Freiheitsthema etwa in der Vision Bethels, wenn von der Herausforderung Verschiedenheit die Rede ist. Dazu heißt es: „Lebensentwürfe und Biografien von Menschen in unserer Gesellschaft sind immer weniger geprägt von überkommenen Rollenmustern und Bindungen. Traditionelle Institutionen verlieren an Prägekraft und Bindefähigkeit. Auch Christin/Christ zu werden und zu sein, ist heute nicht mehr selbstverständlich, die Gesellschaft säkularisiert zunehmend. Selbstbestimmung und individuelle Wahlentscheidungen werden zu bestimmenden biografischen Weichenstellern. Zugleich werden die Kulturen des Zusammenlebens ebenso wie die Formen und Inhalte von Religiosität immer vielfältiger. Dazu trägt bei, dass unsere Gesellschaft zunehmend geprägt ist durch Migrantinnen und Migranten mit sehr unterschiedlicher kultureller und religiöser Herkunft. Dies gilt mehr und mehr auch für die Menschen, die unsere Angebote in Anspruch nehmen sowie für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.“ Hier taucht zwar der Begriff der Selbstbestimmung auf, aber eben nicht derjenige der Freiheit.

Die Freiheit wird auch an anderer Stelle zum Thema, wo die Nutzerinnen und Nutzer diakonischer Angebote und ihre Angehörigen als Kundinnen und Kunden auf dem durch Wettbewerb gekennzeichneten Dienstleistungsmarkt wahrgenommen werden. Freiheit ist die Freiheit des Marktes, auf dem Angebot und Nachfrage zueinander in Wettbewerb treten. Schließlich kommt das Freiheitsthema in der Vision Bethels der Sache nach auch noch dort zur Sprache, wo die Kunden- bzw. Nutzerorientierung folgendermaßen beschrieben wird: „Wir orientieren unsere Dienstleistungen an den Bedarfslagen und den persönlichen Vorstellungen der Menschen, die unsere Dienste in Anspruch nehmen. Wo gewünscht, unterstützen wir sie dabei, ihre Rechte und Pflichten als Bürgerinnen und Bürger umfassend wahrzunehmen.“

Die Herausforderung der Freiheit besteht für ein diakonisches Unternehmen wie Bethel nun gerade darin, dass in ihren Einrichtungen das Zusammenleben von Menschen mit all ihren Verschiedenheiten und Besonderheiten möglich sein soll. Bethels Motto lautet schließlich: „Gemeinschaft verwirklichen“. Wenn ich dafür plädiere, der Freiheit im Selbstverständnis der Diakonie auch theologisch einen größeren Stellenwert beizumessen, bedarf doch der Begriff der Freiheit zunächst einer näheren Klärung. Hierbei sind mir gerade die biblischen Impulse wichtig, ist doch Freiheit in biblischen Zusammenhängen eine kommunikative Freiheit. Die Bibel zeigt uns den Menschen als Freiheitswesen, das in der Gemeinschaft und in der Kommunikation mit Gott, seinen Mitmenschen und der gesamten Schöpfung steht. Er ist dieses Freiheitswesen, weil Gott selbst in Kommunikation mit ihm tritt und ihn zu solcher Kommunikation befreit und befähigt. Die kommunikative Freiheit aber verwirklicht sich im Spannungsfeld von Autonomie und Angewiesenheit, in der wechselseitigen Bezogenheit von Freiheit, Liebe und Verantwortung.

Wie können die durch die von Gott geschenkte Befreiung gewonnenen Handlungsräume freiheitlich genutzt werden, wenn sich diakonisches Handeln und das Leben in diakonischen Einrichtungen in einem sozialstaatlichen Rahmen abspielen, der zunehmend von marktwirtschaftlichen Bedingungen geprägt wird? Wie kann die Vision Bethels, Gemeinschaft zu verwirklichen, so mit Leben erfüllt werden, dass die Verwirklichung von Gemeinschaft für die in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel begleiteten und betreuten Menschen ebenso wie für die Mitarbeitenden als freiheitliches Geschehen erlebbar wird? Wie kann die Gemeinschaft, die in Bethel verwirklicht werden soll, von allen als Freiheitsraum erlebt und ausgestaltet werden?

Hier kann der Begriff der kommunikativen Freiheit weiterhelfen, der im Zentrum der Ethik des Theologen Wolfgang Huber steht. Während die Moderne nach der Aufklärung Freiheit in erster Linie als Recht deutet, das mit den Kategorien von Anspruch und Abgrenzung verbunden ist, bzw. als vom Menschen selbst gemachte und selbst hergestellte Freiheit, deutet Huber die menschliche Freiheit, welche im christlichen Glauben gründet, als Gabe, die nur im Zusammenleben mit anderen realisiert werden kann. Weil der Mensch nur durch die Liebe im anderen zu sich selbst kommen kann, gehören nach Huber nicht nur Freiheit und Liebe, sondern auch Freiheit und Gerechtigkeit sowie Freiheit und Verantwortung unlöslich zusammen.

Diakonische Ethik beschränkt sich nicht auf das Ethos der Nächstenliebe und auf die individualethische und personalethische Reflexion zwischenmenschlichen Handelns. Sie ist auch eine Ethik der diakonischen Institutionen, welche zu prüfen hat, inwiefern diakonische Einrichtungen und Unternehmen dem Anspruch gerecht werden, Institutionen der Freiheit zu sein, die für die von ihnen begleiteten oder die in ihnen lebenden Menschen ebenso wie für die in ihnen Tätigen tatsächlich Freiheit im Geist des Evangeliums ermöglichen und zugleich die Würde und Ebenbildlichkeit der Menschen in ihrer Unverfügbarkeit achten.

Alle Menschen, so heißt es in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sind gleich an Würde und Rechten geboren. Vor Gott und vor dem weltlichen Gesetz sind alle Menschen gleich. In der Sprache der Bibel: Vor Gott gilt kein Ansehen der Person (Apostelgeschichte 10,34). Der neutestamentliche Jakobusbrief kritisiert daher scharf, wenn in einer Gemeinde Rangunterschiede gemacht und etwa reichen Gemeindegliedern größere Achtung als armen entgegengebracht wird (Jakobus 2,1–9). Sie alle sind Gottes Ebenbild. In säkularer Sprache ausgedrückt: Die Menschenwürde kommt einem Menschen zu, einfach weil er ein Mensch ist. Sie kann weder erworben noch verloren werden. Es handelt sich um eine angeborene und unverlierbare Würde.

Zum Kern der Menschenwürde wird das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung gerechnet. Wir sprechen auch von der Autonomie. Die Prinzipien der Patientenautonomie und des „informed consents“ beruhen auf dieser Grundannahme. Es besteht aber nicht unbedingt ein Gegensatz zwischen Autonomie und Angewiesenheit bzw. Abhängigkeit, wie sie in gewisser Weise jede Arzt-Patienten-Beziehung kennzeichnet. Überhaupt ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie, auch für einen erfolgreichen Pflegeprozess das Vorhandensein von Vertrauen. Vertrauen aber, so der Medizinethiker und Theologe Dietrich Rössler, ist akzeptierte Abhängigkeit. Die faktische Abhängigkeit des hilfsbedürftigen Menschen darf freilich nicht zur Entmündigung von Patientinnen und Patienten führen. Das Verhältnis etwa zwischen Arzt und Patient ist vielmehr so zu gestalten, dass die Selbstbestimmung dieses Patienten im Rahmen seiner akzeptierten Abhängigkeit gestärkt wird. Insoweit ist Patientenautonomie ein sinnvolles Prinzip heutiger Medizin- und Pflegeethik, auch wenn man sich am Begriff der Autonomie in diesem Zusammenhang stoßen mag.

Gegen die Abstraktion eines solipsistischen (selbstbezogenen) Autonomieverständnisses wendet sich das Konzept der relationalen Autonomie, das in der feministischen Ethik entwickelt worden ist. Der Mensch ist ein Beziehungswesen, wie besonders die Philosophie des dialogischen Personalismus bewusstgemacht hat. Diese Sicht des Menschen entspricht auch der biblischen Tradition. Das Konzept der relationalen Autonomie stimmt in der medizinischen und pflegerischen Praxis mit dem Modell der partizipativen Entscheidungsfindung („shared decision making“) überein. Der Patient trifft in der Regel keine einsamen Entscheidungen, sondern er berät sich mit Menschen seines Vertrauens, mit der behandelnden Ärztin oder dem Arzt ebenso wie mit Angehörigen oder ihm sonst nahestehende Personen, vielleicht begleitet von psychologischem oder seelsorglichem Rat.

Einem abstrakten Begriff von Autonomie und Selbstbestimmung setzten Farideh Akashe-Böhme und ihr Mann Gernot Böhme den Gedanken der Souveränität entgegen: „Ein Mensch ist souverän, wenn er mit sich etwas geschehen lassen und Abhängigkeiten hinnehmen kann.“ Dieser Gedanke berührt sich mit wesentlichen Einsichten des christlichen Glaubens und seines Verständnisses von Menschenwürde, die auch Schwerstkranke und Menschen mit Behinderungen nicht verlieren können.

Zu bedenken ist auch, dass Angewiesenheit und Freiheit keineswegs eine Alternative sein müssen. Paradoxerweise kann nämlich die Leugnung von Hilfsbedürftigkeit zur Einschränkung der persönlichen Freiheit führen, ihre Anerkennung dagegen zu einem neuen Freiheitsgewinn. Beispiel Bewegungsfreiheit: Den Rollator oder Rollstuhl abzulehnen, bedeutet für Betroffene möglicherweise eine Einschränkung ihrer Mobilität. Anzuerkennen, dass man künftig auf einen Rollstuhl angewiesen ist, erhöht die Mobilität. Dieser Freiheitsgewinn ist freilich auch mit einer Verlusterfahrung und einem Abschiedsschmerz verbunden. Er setzt voraus, zu akzeptieren, dass bestimmte Maßnahmen der Rehabilitation, die darauf zielen, dass die Person wieder selbstständig gehen kann, erfolglos bleiben.

Ethische Probleme brechen auf, wenn Autonomie und Fürsorge zueinander in Spannung treten. Konkret stellt sich die Frage, welche Freiheiten man Bewohnerinnen und Bewohnern oder Patientinnen und Patienten lassen kann, ohne dass sie sich selbst oder Dritte gefährden oder gar schädigen, und wann unter Umständen sogar freiheitsbeschränkende Maßnahmen erforderlich sind. Dennoch: Freiheit, verstanden als kommunikative Freiheit, bildet keinen Gegensatz zu Nächstenliebe und Fürsorglichkeit. Diese gehören vielmehr mit der Freiheit unlöslich zusammen. Die Achtung und die Stärkung der Selbstbestimmung, gerade von Menschen, die vielleicht nur eingeschränkt zu ihr fähig sind, ist geradezu ein Implikat der Fürsorge. Im Sinne der relationalen Autonomie ist Selbstbestimmung darauf angewiesen, durch andere gefördert, bisweilen auch gefordert zu werden. So tritt neben Freiheit und Liebe der Begriff der Verantwortung.

Christliche Ethik nach evangelischem Verständnis ist grundsätzlich als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik zu verstehen. Die evangelische Sicht von Verantwortung hängt unmittelbar mit dem Glauben an die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben zusammen. Auf ihr beruht die Unterscheidung von Person und Werk, welche vom Zwang der Selbstrechtfertigung befreit – und gerade so zur Übernahme von Verantwortung befähigt. Die Wahrnehmung und Übernahme von Verantwortung geschieht nicht nur im Wissen darum, dass Menschen scheitern können, sondern auch im Vertrauen darauf, dass uns vergeben wird. Verantwortung ist nicht nur aus dem Geist der Liebe und der Freiheit zu übernehmen. Sie ist auch im Geist der Freiheit auszuüben, um gerade so dem Spannungsfeld von Autonomie und Angewiesenheit gerecht zu werden.

[1]     Der Beitrag beruht auf meinem Vortrag, den ich im Rahmen der Tagung „‚Die Freiheit nehm (geb) ich mir (dir)!‘ – Diakonie zwischen Autonomie und Angewiesenheit“, 28.–29.10.2014, in Bethel gehalten habe.

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