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Vielfalt

Wer ist mein Nächster?

Nächster?

Autorin: Dr. Johanna Will-Armstrong

Aus: Kulturelle und religiöse Vielfalt - bethel»wissen No. 02

Liebe Leserinnen und Leser,

mit Blick auf das Thema Vielfalt betrachte ich hier die Gleichniserzählung vom barmherzigen Samariter: Die Geschichte kennen die meisten von uns gut – vielleicht sogar zu gut? ... Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gehört sicherlich - gerade hier in Bethel - zu den zentralen biblischen Texten für unsere Arbeit. Ob wir da noch etwas Neues entdecken werden?

Ein Schriftgelehrter fragt Jesus: „Wer ist mein Nächster?“ Wir erfahren, dass sein Motiv für diese Frage nicht aufrichtig  ist: Er will Jesus damit aufs Glatteis führen und selbst umso besser dastehen. Aber Jesus interessiert sich nicht dafür, warum der Fragende fragt.
Denn: Die Frage „Wer ist mein Nächster?“ ist so wichtig, dass sie unbedingt eine Antwort braucht. Deshalb lässt Jesus sich darauf ein. Und Jesus beginnt zu erzählen:

„Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber.“
Ich denke, schon der erste Satz schafft eine Situation wie im Tatort – die Dramatik ist kaum zu überbieten. Jesus macht uns quasi zu Begleitern des Überfallenen. Alles, was er nun erlebt, alles, was nun weiter ihm widerfährt – wir nehmen es aus seinem Blickwinkel heraus wahr. Wir haben teil an seinem Schicksal. Jesus nötigt uns die Perspektive des Opfers auf. Angenehm ist das nicht. Aber Jesus sagt: Die Perspektive des Opfers, die Perspektive von Menschen, die verfolgt werden, denen Gewalt geschieht, ist für uns die einzig mögliche Perspektive. Das ist die Blickrichtung Gottes. Die ganze Schrift erzählt von Gottes Leidenschaft für die Leidenden und von seiner Schwäche für die Schwachen.

„Die Räuber zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.“ An der Seite des Opfers erlebe ich, wie der Mann gedemütigt wird, wie man ihm die Kleider vom Leib reißt. Ich stelle mir vor, wie er unter den Schlägen seiner Peiniger schreit, stöhnt und am Ende nur noch leise wimmert. Wie er in der Wüste allein zurück gelassen wird, wie die Todesangst ihn packt.

Augenblicklich sehe ich ganz andere Bilder: Menschen, die flüchten vor der Not, dem Krieg, dem wirtschaftlichen Elend in ihren Heimatländern. Ich kenne ihre Gesichter, wenn sie in einem Auffanglager gefilmt werden, ihr Bild in der Zeitung veröffentlicht wird - Angst in die Augen gezeichnet.

„Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinab zog und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit. Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.“

Wie niederschmetternd das ist: Zwei Männer, die es eigentlich besser wissen müssten, gehen vorbei. Sie kennen die Gebote Gottes besser als viele andere. Sie wissen, dass man nicht nur Gott lieben soll, sondern auch den Nächsten wie sich selbst. So steht es im 3. Buch Mose: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; denn ich bin der HERR.“ (3. Mose 19.18)

Von den beiden, die vorübergehen heißt es, dass sie das Opfer sehen – und ich denke mir: Auch der Überfallene, der da im Graben der Straße liegt, sieht, dass sie ihn sehen. Welche Hoffnung muss da in diesem Menschen aufkeimen? Jetzt kommt Hilfe. Jetzt sieht mich einer. Aber: Nichts wird gut und keine Hilfe kommt. Beide gehen vorbei.

Sehe ich die Not, sehe ich die Opfer – nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen – sodass ich nicht vorübergehe, sondern anhalte? Auch ich gehöre zu denen, die es gut zu wissen meinen: Liebe deinen Nächsten wie du Gott liebst und dich selbst liebst. Auch ich bin dem Doppelgebot der Liebe verpflichtet. Bleibe ich stehen – gehe ich vorüber?

„Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin.“

Jetzt gerät der Verletzte in Panik: Ein Samariter – ein Fremder – ein Ausländer – einer, der andersgläubig ist – einer, vor dem die Eltern mich gewarnt haben: Nimm dich vor dem bloß in Acht. Wenn wir uns die nicht vom Leib halten, werden sie alles übernehmen und bestimmen und uns alles wegnehmen. Und nun – nun kommt dieser Fremde vorbei an der Stelle seines Unglücks. Was wird er tun? Zynischer Blick, ein Blick, der sich weidet am Unglück des Überfallenen, ausspucken in den Sand, teilnahmslos weitergehen?

„Als der Samariter ihn sah, jammerte er ihn. Und er ging zum ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.“

Balsam für den Leib – Balsam für die Seele. Wie gut tut es dem verletzten Mann, dass hier einer Gefühl zeigt, er jammerte ihn. Eigentlich müsste man aus dem Griechischen so übersetzen: Als der Samariter den Überfallenen sah, drehten sich ihm vor Entsetzen die Eingeweide herum. Und dem Verletzten fällt es vermutlich wie Schuppen von den Augen: Dieser Fremde, vor dem die Eltern warnten, ist ein Mensch – ein Mensch, der fühlt, der mitfühlt – und der hilft und dies nicht wie irgendein Dilettant, sondern professionell, fachkundig. Er versorgt die Wunden, organisiert den Krankentransport, er managt die Aufnahme in eine Herberge und übernimmt die Kosten der Pflege. Ich, die ich immer noch mit den Augen des Verletzten dieser Szene folge, spüre wie gut das tut.

Und ich erinnere mich daran, wie oft fremde Menschen eine Bereicherung sind für uns: Dass sie ihre Gaben, Fähigkeiten und oft genug eine solide Ausbildung mitbringen. Wir brauchen sie. Die Menschen, die Hilfe brauchen, brauchen sie. Wir werden das nicht vergessen, wenn Jesus uns aus der Geschichte in den Alltag entlässt, in den Alltag unserer Arbeit und unseres Dienstes in Bethel. Unserer gemeinsamen Arbeit.

Doch noch einmal weiter. Der Verletzte ist in Sicherheit hier in der Herberge. Die Wunden werden heilen. Und nun geschieht erneut etwas Wunderbares:

„Am nächsten Tag zog er (der Samariter) zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn und wenn du mehr ausgibst, will ich´s dir bezahlen, wenn ich wieder komme.“

Der immer noch Hilfsbedürftige kann und soll am sicheren Ort bleiben, bis er wieder auf eigenen Füßen stehen und gehen kann. Das kostet richtig Geld. Zwei Silbergroschen sind keine Kleinigkeit. Aber für den Samariter scheint es selbstverständlich, diesen Betrag aufzuwenden. Wenn es nötig ist, auch mehr. Wie wohl tut das dem Patienten? Da sieht einer nicht auf seine Bestimmungen, auf sein schmales Budget, sondern nur auf mich. Da ist einer nicht von der Sorge um sich selbst, sondern von der Sorge um mich erfüllt. Auch wir empfinden, wie gut das tut. Und wir wissen, wie wohltuend es ist, wenn Menschen uns dazu ausstatten, nicht nach einem engen Budget zu entscheiden, sondern danach, wie es wirklich Not tut. Das bedeutet Vertrauen in unser Handeln, auch in den angemessenen Umgang mit anvertrautem Geld – für die und zum Nutzen derer, die bei uns Herberge haben. Und auch da erfahren wir:
Unter denen, die hintragen, sind nun noch „Samariter“: Menschen anderen Glaubens, mit eigener Migrationsgeschichte. Beim Besuch einer Einrichtung der Behindertenhilfe in Dortmund habe ich so einen syrischen Arzt und seine Frau kennengelernt: „Uns für Bethel zu engagieren und Menschen etwas Gutes zu tun- das ist der Dank an Gott, dass wir hier sicher leben können.“ Ihr Gott ist der des Propheten Mohameds.

Das ist also diese alte Gleichnisgeschichte vom barmherzigen Samariter. Am Ende stellt Jesus uns die Kontrollfrage: „Wer von diesen Dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Noch immer lässt Jesus uns nicht heraus aus der Perspektive des Opfers. Aus der Sicht der Opfer heraus fällt die Entscheidung darüber, was Nächstenliebe ist und was nicht. Der Schriftgelehrte hat es verstanden: „Der, der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Und jetzt erst, ganz am Schluss, entlässt Jesus ihn und uns aus dieser Perspektive und sagt: „So geh´ hin und tu´ des Gleichen.“ Tu´ des Gleichen, tut es als die, die gelernt haben mit den Augen des Opfers zu sehen. Lasst euch anrühren von der Not der Menschen und helft ihnen. Gelegenheit dazu haben wir jeden Tag. Gemeinsam mit allen, die Gott uns hier zur Seite gibt.

Amen.

 


Der barmherzige Samariter (Lukasevangelium Kap. 9, Verse 25 – 37)

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt (5.Mose 6,5; 3.Mose 19,18). Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber.  Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen Dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!
 

 
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