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Vielfalt

Kulturelle Missverständnisse

Missverständnisse

... im Pflege- und Klinikalltag

Autorin: Öznur Fettah

Aus: Kulturelle und religiöse Vielfalt - bethel»wissen No. 02

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Laut Statistischem Bundesamt (2015) lebten im Jahr 2014 ca. 16,4 Millionen Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen in der Bundesrepublik Deutschland [1]. Deutschland hat sich zu einer multikulturellen Gesellschaft entwickelt, deren Veränderungen in der Bevölkerungszusammensetzung auch Einfluss auf das Gesundheitssystem hat:Die Zahl der Migranten und Migrantinnen als Kunden und Kundinnen nimmt im Gesundheitssystem rasch zu [2].

Da sich neben Niederlassungsprozessen innerhalb und nach Europa derzeit neue Migrationstrends wie kurz- und langfristige Migration von Arbeitskräften, Familienzusammenführung und Flüchtlingsmigration abzeichnen, ist in den nächsten Jahren mit einer kontinuierlichen weiteren Zuwanderung nach Deutschland zu rechnen. Für viele Pflegende stellt die Betreuung und Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund eine enorme Herausforderung dar, die sich insbesondere in Verständigungsproblemen und Unsicherheiten widerspiegeln und im schlimmsten Falle zu Missverständnissen und Unzufriedenheit führen können.

Kulturspezifische und soziokulturelle Hintergründe spielen eine sehr bedeutende und wichtige Rolle in den Handlungs- und Verhaltensmustern von Migranten und Migrantinnen. Sie prägen den Menschen in seiner individuellen Krankheitswahrnehmung, seinem Krankheitserleben und Krankheitsausdruck und spiegeln sich natürlich auch in den kulturell unterschiedlichen Krankheitskonzepten wieder. Die Auswirkungen von ethnokulturell geprägten Krankheitskonzepten und die daraus resultierenden „kulturellen Missverständnisse“ können sich folgenschwer auf die Beziehung zwischen Patienten und Patientinnen mit Migrationshintergrund und dem Personal medizinischer Institutionen auswirken. Kulturelle Unterschiede wie die Sprache, Essgewohnheiten, Traditionen, Werte und Glauben werden oft als fremd empfunden. Dies kann zu Unsicherheiten und Missverständnissen auf Seiten der Pflegepersonen und der Migranten führen. Da Distanz und Rückzug oft als Lösung dieser orientierungslosen Begegnungssituation gesehen werden, findet ein gegenseitiges Erkennen und sich Einlassen auf den anderen und seine Welt in vielen Fällen nicht statt. Dieses Verhalten hat jedoch Auswirkungen auf die Qualität der Pflege [3].

Fallbeispiel: Der 68jährige türkische Patient Herr Ö. wird wegen seiner chronischen Rückenbeschwerden in das Krankenhaus eingewiesen. Bei der Aufnahme gibt Herr Ö. in sehr schlechtem Deutsch an, dass er über eine schwere Leber klagt. Zur Messung der Schmerzintensität soll er eine verbale Rating-Skala führen, die ihm auch erläutert wird. Auf die Nachfrage, ob er alles verstanden habe, nickt Herr Ö. nur mit dem Kopf. Am nächsten Morgen stellt die Pflegende fest, dass Herr Ö. die verbale Rating-Skala nicht ausgefüllt hat.

Das Unbehagen darüber, nicht zu wissen, was geschehen und erwartetet wird, kann bei Patienten oder auch Patientinnen zu Ängsten führen. Aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten können Ängste, Nöte, Leid, Fragen und Bedürfnisse nicht adäquat, verständlich und sachbezogen formuliert werden, genauso wie medizinische Sachverhalte folglich nicht verstanden werden. Patienten wie Herr Ö. kommen häufig aus Gesellschaften, in denen aufgrund mangelnder schulischer Bildungsmöglichkeiten Informationen mündlich erfolgen. Somit ist die Sprache bzw. die verbale Kommunikation von höchster Bedeutung. Missverständnisse können sich insbesondere während eines Aufklärungsgespräches verschärfen. Die nach Aufklärungsgesprächen oft gestellte Frage „Haben Sie mich verstanden?“ gibt keine Gewähr dafür, ob und in welchem Umfang wirklich verstanden wurde. Bei türkischen Patienten verbietet es sich, im höflichen Umgang mit Respektpersonen die Frage zu verneinen, da sie sonst den Erklärenden dazu zwingen würden zuzugeben, dass er schlecht erklärt habe. Hinzu kommt, dass sie vermeiden wollen, das gegenüber ihnen bestehende Vorurteil der intellektuellen Minderbegabung durch die Aussage, etwas nicht verstanden zu haben, möglicherweise zu bestärken [4].

Die Bedürfnisse, Sorgen und Ängste des Patienten oder der Patientin sprachlich nicht zu verstehen kann aber auch für Pflegekräfte eine Belastung darstellen. Pflegende erleben, dass die Qualität der Pflege aufgrund des Kommunikationsnotstandes leidet und der Mensch nicht die Betreuung erhält, die ohne Verständigungsprobleme möglich wäre. Die Anforderungen an einen individuellen und  erfolgreichen Pflegeprozess können kaum erfüllt werden [5]. In unterschiedlichen Kulturen können gleiche Wörter auch eine vollständig andere tiefergehende emotionale Bedeutung haben. Im türkischen Sprachgebrauch ist der Begriff Leber mit der deutschen Bedeutung des Begriffes Herz gleichzusetzen. Das bedeutet, dass der hauptsächliche Sitz der Emotionen im türkischen Sprachgebrauch in der Leber wiederzufinden ist. Bei Betrübtheit wird der Patient oder die Patientin daher nicht über ein schweres Herz klagen, sondern über das Befinden seiner oder ihrer Leber. Trotz einer differenzierten Äußerung, die mit deutschen Worten ausgedrückt werden kann und eine direkte Übersetzung aus dem Türkischen darstellt, kann es damit zu Unverständnis, Fehldiagnosen und Verzögerungen in der Behandlung kommen. So kann es im Klinikalltag durchaus möglich sein, dass Organe „fallen“ oder „verrutschen“ können [6].

Erschwerend für die Beziehung zwischen dem ausländischen Patienten oder der Patientin und dem pflegerischen Personal ist zudem der Sprachstil bzw. die Sprachform. Wegen der Sprachprobleme werden von pflegerischer Seite oft Strategien eingesetzt, die den ausländischen Menschen das Verstehen erleichtern sollen. Das heißt, sie werden wesentlich lauter angesprochen, die Aussprache ist besser akzentuiert, langsamer und der Inhalt wird häufig wiederholt. Die Angesprochenen empfinden solch ein Verhalten ihnen gegenüber jedoch möglicherweise als unpassend, herabsetzend und als Befehlssprache, weil sie den Unterschied der Tonlage zu den deutschen Patienten und Patientinnen sehen und hören [4].

Der Aufbau und die Steuerung der Beziehung zu dem Patienten und der Patientin, eine Perspektivenübernahme sowie die Entwicklung einer fürsorglichen Haltung bilden in solchen Situationen bedeutsame Qualifikationen in der entstandenen Interaktion [7]. Große Bedeutung nimmt der Anteil der Gespräche mit Patienten und Patientinnen ein. Durch eine Kommunikation auf Augenhöhe entsteht eine hohe Vertrauensstellung [8]. Die Pflegekraft fühlt sich mittels Kommunikationstechniken, wie dem aktiven Zuhören, in die Situation der Patientin oder des Patienten ein. Diese Form der Gesprächsführung, die durch den empathischen Ansatz stets ideologieneutral bleibt, kann insbesondere bei der Interaktion und Kommunikation zwischen Pflegekraft und Menschen unterschiedlicher kultureller Prägungen hilfreich sein. Damit daraus eine spannungsfreie Gesprächsführung resultiert, ist es nicht nur notwendig die Grundelemente und Techniken zu beherrschen, sondern auch ein helfendes Gesprächsverhalten oder eine personenzentrierte Gesprächsführung zu entwickeln und in sich aufzunehmen [9].

Tipps zur Kommunikation

  • Die Kommunikation zwischen Pflegekraft und ausländischem Patienten oder einer Patientin kann durch verschiedene Aspekte erleichtert werden:
  • Behalten Sie die Lautstärke auch bei offenkundigem Unverständnis bei, da die Inhalte durch eine erhöhte Lautstärke nicht verständlicher werden.
  • Wählen Sie als Pflegekraft ein eher langsames Sprechtempo und heben Sie dabei wichtige Begriffe durch kleine Pausen und bewusstes Anblicken hervor.
  • Verzichten Sie auf Fachsprache und verwenden Sie stattdessen leicht übersetzbare Begriffe.
  • Vermeiden Sieunüberschaubare Sätze mit vielen Konjunktiven [10].
  • Setzen Sie weitere Hilfsmittel zur Überbrückung der Sprachbarrieren ein, z.B. Piktogramme oder Übersetzungstafeln. Über das Klinikum Nürnberg können beispielsweise Piktogramme, Anamnesen und Skalen angefordert werden (KOM-MA = Kommunikations-Materialien für ausländische Patienten).
  • Verwenden Sie Videos, um ganze Handlungsketten zu demonstrieren. Allgemeine pflegerische Tätigkeiten können somit auf einem Video aufgenommen und bei Bedarf gezeigt werden [11].
  • Formulieren Sie offene Fragen, da bei einer geschlossenen Frage („ja“ oder „nein“) eine Verneinung als unhöflich gegenüber der fragenden Person empfunden wird.
  • Bitten Sie den Patienten oder die Patientin bei dem Verdacht des Nichtverstehens das Gesagte noch einmal zu wiederholen. So können Sie sichergehen, dass Sie verstanden wurden.

Transkulturelle Kompetenz

Um die eigene Lebenswelt wahrnehmen und kennenlernen zu können, ist es für Fachpersonen wichtig, sich selbst zu reflektieren. Durch das Verstehen der eigenen Lebenswelt können auch andere individuelle Lebenswelten identifiziert und eingeordnet werden. Zusätzlich wird neben der Selbstreflexion das Verständnis von Migranten und Migrantinnen und ihren Geschichten durch Hintergrundwissen und transkulturelle Erfahrungen erhöht. Fachpersonen, die eine transkulturelle Kompetenz erworben haben, behandeln Menschen mit Migrationshintergrund ihren Bedürfnissen entsprechend, respektvoll und setzen sich für die gesundheitliche Chancengleichheit ein [3].

Für Domenig (2007) setzt sich die transkulturelle Kompetenz aus drei Säulen zusammen: Selbstreflexion, Hintergrundwissen und transkulturelle Erfahrungen sowie narrative  Empathie. Diese drei Säulen ermöglichen es, reflexiv die eigene Lebenswelt zu hinterfragen und die Perspektive des anderen einzunehmen. So ist es möglich, die Patienten und Patientinnen in unterschiedlichsten Kontexten zu erfassen und eine angepasste Handlungsweise auszuwählen. Eine wertschätzende, respektvolle Haltung gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund wird durch die narrative Empathie betont, wobei die eigenen Vorurteile, Rassismen und diskriminierenden Handlungen reflektiert und Narrationen bzw. die persönlichen Lebensgeschichten in den Mittelpunkt der Behandlung und Pflege gestellt werden.

Selbstreflexion und narrative Empathie fördern eine gute Beziehungsgestaltung und den erfolgreichen Einbezug individueller Lebensweltent [3].

Weitere Lösungsansätze im Überblick

  • Um Missverständnisse zu vermeiden, sind Kenntnisse über Grundlagen unterschiedlicher Krankheitsverhaltensmuster und soziokultureller Hintergründe erforderlich. Dies könnte mit Hilfe von Schulungen, Fortbildungen, regelmäßigen Stationsbesprechungen und entsprechenden aktuellen Literaturangeboten gefördert werden.
  • Interkulturelle Kompetenzen sollten stärker in die Ausbildung medizinischer und pflegerischer Berufe integriert werden.
  • Kliniken sollten den Bedarf an mehrsprachigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern stärker in den Vordergrund stellen und in die Stellen- und Personalplanungen einbeziehen.
  • Aufgrund von geringen oder fehlenden Deutschkenntnissen sollten Informations- und Schulungsmaterial in mehreren Sprachausführungen bereitgestellt werden. Dabei sollte beachtet werden, dass im Hinblick auf eine hohe Analphabetenquote schriftliche Informationsquellen keinen vollwertigen Ersatz für eine mündliche Kommunikation darstellen [12].
  • Ebenfalls als sinnvoll erachtet wird die Integration von Fachpersonen mit Migrationshintergrund, was gleichzeitig die Chancengleichheit am Arbeitsplatz erhöht.
  • Des Weiteren sollte eine ständige Weiterbildung der Mitarbeitenden in transkultureller Kompetenz sichergestellt werden.
  • Ebenfalls wünschenswert für die Institution wäre der Aufbau eines professionellen Übersetzungsdienstes, der bei Kommunikationsproblemen zu Rate gezogen werden kann3. Empfehlenswert ist eine Liste mit möglichen Dolmetschern, die allen Mitarbeitenden im Krankenhaus zur Verfügung gestellt wird [11].

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[1] Statistisches Bundesamt (2015): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2014. Abgerufen am 28.08.2015 von LINK

[2] vgl. Okken, P. K., Spallek, J. & Oliver, R. (2008): Pflege türkischer Migranten. In U. Bauer & A. Büscher (Hrsg.); Soziale Ungleichheit und Pflege. Beiträge sozialwissenschaftlich orientierter Pflegeforschung (S. 396 - 422). Wiesbaden:  Verlag für Sozialwissenschaften.

[3] Domenig, D. (2007): Transkulturelle Kompetenz. Lehrbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe (2., aktualisierte und überarbeitete Auflage). Bern: Verlag Hans Huber.

[4] Zimmermann, E. (2000): Kulturelle Missverständnisse in der Medizin. Ausländische Patienten besser versorgen. Bern: Verlag Hans Huber.

[5] Jung, S. (2009): Mit Händen und Füßen. Aus: Heilberufe 61(1), S. 38-40.

[6] von Bose, A., Terpstra, J. (2012): Muslimische Patienten pflegen. Praxisbuch für Betreuung und Kommunikation. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.

[7] Knigge-Demal, B. (1998): Förderung der professionellen Beziehungsfähigkeit in der Ausbildung zur Kinderkrankenschwester/zum Kinderkrankenpfleger[t5] : Unveröffentlichte Dissertation. Universität Osnabrück.

[8] Kocks, A. (2011): Beratung in der Pflege – der Wittener Werkzeugkasten. Abgerufen am 04.03.2015 von LINK

[9] Mamerow, R. (2013): Praxisanleitung in der Pflege (4., aktualisierte und überarbeitete Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.

[10] Hoefert, H.-W. (2008): Kommunikation mit ausländischen Patienten. In H.-W. Hoefert, W. Hellmann, Kommunikation als Erfolgsfaktor im Krankenhaus (S. 105-130). Heidelberg: Economica.

[11] Kellnhauser, E., Schewior-Popp, S. (1999): Ausländische Patienten besser verstehen. Stuttgart, New York: Thieme Verlag.

[12] Erim, Y., Glier, G. (2004): Schmerz bei Migranten aus der Türkei. In: H.-D. Basler, C. Franz, B. Kröner-Herwig, H.-P. Rehfisch, Psychologische Schmerztherapie (S. 227-239). Berlin, Heidelberg, New York: Springer Verlag.

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