| Digitale Teilhabe |
Technische Assisstenzsysteme im Sozialwesen
Autorin: Prof. Dr. Günther Wienberg
Aus: bethel»wissen No. 03 - Neue Technik
Ein Leben ohne Technologien, wie elektrisches Licht, Fernsehen oder Autos, ist in modernen Gesellschaften kaum noch vorstellbar. Im Gegenteil: die Nutzung von Internet, Smartphones, Navigationsgeräten bis hin zu neuen „Smart-Home-Systemen", die Heizung, Licht, Medien und Sicherheitstechnik im Wohnumfeld energiesparend und anwenderfreundlich steuern können, nimmt immer mehr zu....
Das gilt auch für das Sozial- und Gesundheitswesen: in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, wo technische Systeme für die Produktion benötigt werden, in der Verwaltung, die ohne Computer kaum noch funktionieren würde oder auch in Betreuung und Pflege, wo Fahrstühle, elektrisch betriebene Rollstühle und andere technische Hilfsmittel keine Besonderheit mehr darstellen.
Was sind technische Assistenzsysteme?
Seit einigen Jahren setzen sich die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel gezielt mit sogenannten technischen Assistenzsystemen auseinander. Es fehlt bisher an einer einheitlichen Definition dieses Begriffs. Wir verstehen darunter hoch entwickelte, vernetzbare, oft mit dem Nutzer bzw. der Nutzerin interagierende und lernende technische Systeme. Sie dienen dazu, Menschen bei ihren unterschiedlichen Tätigkeiten im Alltag zu unterstützen.
Von solchen technischen Assistenzsystemen können junge und ältere Menschen, Menschen mit und ohne Behinderung profitieren. Bethel beteiligt sich an der Entwicklung und Erprobung solcher Technologien und wendet sie z. T. schon an.
Unsere Ziele dabei sind:
Die Möglichkeiten von Klientinnen und Klienten zur Selbstbestimmung, zur Selbsthilfe und zur sozialen Teilhabe werden erweitert.
Klientinnen und Klienten können ihr Recht, an der Nutzung von Technologie teilzuhaben, besser wahrnehmen. Technische Systeme müssen hierfür barrierefrei gestaltet und erschwinglich sein.
Die Kompensation von Einschränkungen von Klientinnen und Klienten wird durch technische Assistenzsysteme verbessert. Individuelle Fähigkeiten und Kompetenzen werden gezielt gefördert.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden von personenfernen und körperlich belastenden Aufgaben entlastet und haben zusätzliche Ressourcen für persönliche Unterstützungsleistungen.
Was treibt die Auseinandersetzung mit technischen Assistenzsystemen voran?
Technologische Entwicklungen verlaufen rasant. Das hat tief greifende Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, auf die sich auch Unternehmen der Sozial- und Gesundheitswirtschaft insgesamt einstellen müssen. Für die Entwicklung und Nutzung technischer Assistenzsysteme im Sozialwesen sind insbesondere drei Treiber wichtig:
1. Demografie
Der demografische Wandel wird die Altersverteilung in der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten deutlich verändern. Die Lebenserwartung in der Bevölkerung steigt, immer mehr Menschen sind hochbetagt. Erstmals in der Geschichte kommt eine ganze Generation von Menschen mit Behinderung in das Seniorenalter. Dies führt zu einer steigenden Nachfrage nach sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen, sowohl im Bereich der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen als auch in Altenhilfe und Pflege. Zudem wächst eine Generation von Menschen mit Behinderungen und Menschen im Seniorenalter heran, für die der Umgang mit hoch entwickelten Technologien (z. B. im Bereich der Kommunikation) mehr und mehr zum Alltag gehört.
2. Ökonomisierung
Seit Aufhebung des Kostendeckungs-Prinzips in den 1990er Jahren gilt: Auch die Sozialwirtschaft funktioniert tendenziell nach dem ökonomischen Maximal-Prinzip. Es geht darum, mit einem vorgegebenen Budget einen maximalen Nutzen zu erzielen. Dadurch steht auch die Sozialwirtschaft seit Jahren unter zunehmendem Druck, die Produktivität zu steigern. Das ist bei personenbezogenen Dienstleistungen eine massive Herausforderung und führt zu zunehmender Arbeitsverdichtung.
3. Inklusion
Inklusion, verstanden als Möglichkeit, gesellschaftliche Teilhabe in allen Lebensbereichen selbstbestimmt verwirklichen zu können, beinhaltet neben Bereichen, wie Bildung, Arbeit, Wohnen, gesundheitlicher Versorgung, Kultur und Politik auch die Teilhabe an der Entwicklung und Nutzung von Technologien. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention geht in Art. 4, Abs. 1 g hierauf ein:
„…verpflichten sich die Vertragsstaaten: (…) Forschung und Entwicklung, für neue Technologien, die für Menschen mit Behinderungen geeignet sind, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien, Mobilitätshilfen, Geräten und unterstützenden Technologien, zu betreiben oder zu fördern sowie ihre Verfügbarkeit und Nutzung zu fördern und dabei Technologien zu erschwinglichen Kosten den Vorrang zu geben.“
Die drei genannten Treiber tragen insgesamt dazu bei, dass die Zahl der Ein-Personen-Haushalte in Deutschland zunimmt: Die Anzahl älterer, alleinstehender Menschen steigt. Durch Inklusionsprozesse erhalten mehr Menschen mit Behinderung die Möglichkeit in ihrer eigenen Wohnung zu leben. Zugleich erhoffen sich Kostenträger durch die verstärkte Nutzung ambulanter Versorgungsstrukturen positive ökonomische Effekte im Vergleich zur stationären Versorgung. So wird die private (Single-)Wohnung immer mehr zum Ort der Unterstützung.
Es stellt sich die Frage, ob und wie technische Assistenzsysteme einen Beitrag zur Bewältigung des demografischen Wandels, zur Verwirklichung und zur Verbesserung der Produktivität unserer Dienstleitungen beitragen können, ohne dass dabei menschliche Zuwendung durch Technik ersetzt wird.
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